Donnerstag, 10. Mai 2012

Tamara im Ehrenmal

8. Mai 2012. Langsam gehe ich auf das große Denkmal zu. Treptow. Der Park. Sonne und Maienduft. Jahrzehnte war ich nicht mehr hier. Eingesteckt habe ich ein Foto. Unsere russische Mutter Tamara (1915-1984, sie kam 1935 aus Liebe nach Deutschland, unser deutscher Vater lernte sie in der Sowjetunion kennen) mit sowjetischen Gästen. Im Hintergrund das Ehrenmal.  Wann? Irgendwie in den 70er Jahren? Dort in der Krypta wurde sie verwewigt – in einem Mosaik-Fries mit anderen sowjetischen Männern und Frauen. Ich bin gespannt. 1949 war ich mit unserer Mama als dreizehnjähriger in der Krypta, kurz nach der offiziellen Eröffnung des Ehrenmals. In Erinnerung ist mir, dass sie ihre rechte Hand auf die Schultern einer vor ihr stehenden Frau legt. Zum Trost. Dass der Krieg beendet ist, dass das Leben weitergeht, dass sie endlich da ist – die Befreiung von der furchtbaren Last dieses größten verbrecherischen Krieges in der Geschichte der Menschheit.

Meine Schritte verlangsame ich. Ich denke, grübele. An meiner Seite ein guter Bekannter. Hans heißt er. Hat ebenso einen Lebensweg hinter sich wie ich. Der Befreiung haben wir Nachdruck verliehen, damit es nie wieder soweit kommt. Mit der Waffe in der Hand. Wir hatten unseren Sinn des Lebens gefunden: Humanität muß mitunter hart verteidigt werden.

Die Stufen nach oben. Die Krypta, das Eisengitter geschlossen. So ein Pech. Was nun? Stille. Leute, die Blumen ablegen. Auch wir.  Ich trete dicht ans Tor. Die Figuren geradeaus sind gut zu erkennen. Meine Mutter aber soll  im Rondell ganz links abgebildet sein. So weiß ich das noch von 1949. Aber den Kopf kann ich nicht durchs Gitter stecken, dafür aber meinen Fotoapparat. Ich richte ihn wohl zu weit nach links, es wurde nichts. Schade. Aber Hans versucht sich ebenfalls. Vielleicht schafft er es? 

Plötzlich träume ich: „Na, wie geht’s, mein guter Junge?“ Mir stockt das Herz. Was soll ich sagen in der Kürze? Sie, die stets sich zu befreien wußte von Kleinmut, Egoismus, Herzlosigkeit. Aber Härte konnte sie ebenfalls zeigen: Bei Dummheit, bei kleingeistigem Denken und Verhalten, bei blödem Geschwätz, sie war selbst immer politisch hellwach. Dazu schön, klug und begabt. Und tapfer, als russische Mutter von vier Kindern im faschistischen Deutschland zu überleben. In der DDR war sie Dolmetscherin für ihre Landsleute – vorwiegend sowjetische Wissenschaftler, die Gäste der DDR waren. Die umsorgte sie warmherzig und mit fachlichem Können. 

Verträgt sie die Wahrheit über unsere jetzigen Zustände des Jahres 2012? Durch vorwiegend auch eigene Schuld, füge ich hinzu. Ist sie erschüttert? Ich beruhige sie. Brot ist da, Kleidung, Sachwerte - alles in Überfülle. Ich glaube, sie müde lächeln zu sehen, so von der Seite. Nein, nur Materielles war nie der jungen Russin alleiniges Ding. Sie liebte Musik, Literatur, Gemälde vor allem, Geistiges. Und wollte auch reisen. Das war begrenzt, sehr sogar. Und nun, höre ich sie im Geiste fragen? Sie verlangte stets ein klares Wort, keine Heuchelei, keine Unehrlichkeit. Und so rede ich Klartext: das ALTE hat uns wieder in seinem Schoß. Hart erkämpftes Soziales gibt es zwar – allerdings mit sehr vielen Abstrichen, mit zunehmend größeren Widersprüchen. Und das Schlimme – auch Kriege und Gewalt gibt es wieder. Weltweit. Die Gelddiktatur schüttelt die Menschen und Verhältnisse durcheinander.

Mein Blick fällt erst Tage später auf ihre damals sehr schlanke Frauenfigur. Abgebildet auf einem Foto von Hans, der sie mit seiner Kamera doch noch erwischt hat. Danke, lieber Hans. Nun kann ich es ihr nicht mehr tröstend zurufen: Wir sind wieder auf dem Weg, auf einem zunehmend harten Weg. Und wissen nicht, wie das und wo das alles enden wird. „Tschüß, liebste Mama!“ Dein Optimismus – er wirkt nach, er steht fürs ewige gute Hoffen. Und fürs Tun…
Dein Sohn H.



Nachtrag vom 14. Mai 2012: Vor der Krypta fragten Hans und mich zwei Damen an dem besagten 08. Mai, ob die Denkmal-Figur und das Kind authentisch seien. Hans bejahte und ich ergänzte, der sowjetische  Militärjournalist Boris Polewoi habe dazu als Augenzeuge den Tatsachenbericht geliefert.


Zu Hause habe ich mich – nach zig Jahren - bei Boris Polewoi noch einmal schlau gemacht. Ja, er hat die Rettung des kleinen blonden Mädchens durch den Obersergeanten Trifon Lukjanowitsch, ein Belorusse, in seinen Büchern "Berlin 896 km" und "Die Reportagen meines Lebens" geschildert, also selbst miterlebt. Interessant: Er schrieb von einer "Eisenstraße" in Berlin, wo der Obersergeant über das unter feindlichem Beschuß liegende Straßenpflaster kroch und das Kind aus den Trümmern rettete, als es um die tote Mutter wimmerte und schluchzte. Später fand er diese Straße nicht. Es stellte sich aber heraus, dass es die "Elsenstraße" in Trepow war. Das l war 1945 offensichtlich von einem Geschoß getroffen worden, und so irrte er mit dem angeblichen Namen Eisenstraße.


Übrigens hatte er auch erfahren, dass es noch eine weitere Rettung eines Kindes in Berlin gab, wie General W.I. Tschuikow einem Bildhauer erzählt habe. Nun denn, jetzt ist mir wohler, da ichs nochmals gelesen hatte. Polewoi wurde später durch den Bildhauer, der das Ehrenmal schuf, über das Aussehen des Helden tüchtig ausgefragt. Dieser Held starb allerdings Tage später an seiner Verletzung, die ihm ein Faschist durch einen einzigen Schuß - unmittelbar, nachdem er das Kind  in die eigene Stellung zurüchgebracht hatte - zufügte.


Wen interessiert es heute noch???? Frage per E-Mail an meinen Bekannten Hans. Seine Antwort: Bei alten Höhlenmalereien wußte auch niemand, wer das mal sehen und bewundern wird…


Ach so: Eine Schulklasse ließ sich vor dem sowjetischen Ehrenmal fotografieren!! Und nach uns kamen noch viele – vereinzelt und in Gruppen…



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