Mittwoch, 9. April 2014

Ukraine: Markt und Aufmarschgebiet

 
 entnommen der Zeitung "junge welt", siehe
 
 
09.04.2014 / Schwerpunkt / Seite 3, junge welt
 

»Für die Arbeiterklasse war die Sowjetunion besser«


Die Oligarchen haben die Ukraine ausgeplündert. Für den Westen ist das Land in doppelter Hinsicht wichtig: als Markt und Aufmarschgebiet. Ein Gespräch mit Mykola Panasiuk


Interview: Peter Wolter/Wilfried Handwerk

unbenannt
Mykola Panasiuk aus dem ukrainischen Dorf Trostjanez ist Vizepräsident des ukrainischen Bauernverbandes. Er war früher Vorsitzender des Kolchos »Avantgard« und ist heute Großbauer auf 3380 Hektar. 70 Beschäftigte bauen dort Raps, Mais, Getreide und Sonnenblumen an.
Besuchern aus dem Ausland präsentiert sich die Ukraine als Staat, der sich allmählich auflöst und in dem faschistische Gruppen nach der Macht greifen. Trifft dieser Eindruck zu?
Der trifft voll und ganz zu. Vor allem die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan-Platz haben dazu geführt, daß unser Land immer mehr verfällt. Die Swoboda-Partei und der »Rechte Sektor« richten die Ukraine jeden Tag mehr zugrunde. Von den Besetzern des Maidan, mit denen wir gesprochen haben, kann man kaum eine intellektuelle Leistung erwarten – wir haben dort ausgesprochen ungebildete, aggressive Menschen angetroffen, denen jede Brutalität zuzutrauen ist. Wer sind die Strippenzieher im Hintergrund?
Daß der Maidan besetzt wurde, war anfangs völlig in Ordnung. Es waren Geschäftsleute aus kleinen und mittleren Unternehmen, Studenten – sie alle hatten die Nase voll von der grassierenden Korruption; sie wollten, daß das Regime des Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch endlich beendet wird. Das war ein sehr ehrliches und verständliches Anliegen.

Die Lage auf dem Maidan hat sich dann aber schnell ins Gegenteil verkehrt. Die Rechten haben die Gelegenheit ergriffen und sich an die Spitze gesetzt, unterstützt von Kräften aus der alten Regierung, die mit diesen Bundesgenossen ihre Positionen sichern wollten. Welche Rolle spielt der Einfluß aus dem Ausland? Unter anderem haben die Außenminister der USA, Polens und der Bundesrepublik Deutschland sowie Grünen-Politiker den Maidan-Besetzern ihre Aufwartung gemacht.
Sie wollten doch nur ihre eigenen Leute besuchen, sie haben doch vom Ausland aus den ganzen Aufruhr organisiert. Wir Ukrainer verbitten uns aber jede Einmischung, wir sind stark genug, unsere Probleme selbst zu lösen.

Es ist doch ganz klar: Sie sehen in der Ukraine einen neuen Markt, auf dem sie ihre Produkte absetzen können – immerhin leben hier 43 Millionen Menschen. Im sogenannten »Europa« habt Ihr eine Überproduktion, es müssen also neue Märkte her. Da ist die Ukraine ein willkommener Fraß. Aber es ist doch sicher auch eine strategische Frage – die Ukraine ist reich an Rohstoffen, und das angrenzende Rußland hat noch viel mehr davon.
Klar, das stimmt, die NATO möchte so nahe wie möglich an Rußland heranrücken, um es in die Zange zu nehmen. Die Ukraine ist somit doppelt wichtig: als Markt und als militärstrategisches Aufmarschgebiet. Der ukrainische Faschismus, so heißt es, habe seine Wurzeln vor allem in dem von der Landbevölkerung geprägten Westen des Landes. Richtig?
Falsch, bei uns auf dem Lande gibt es keine Faschisten, wohl aber in den Städten der Westukraine. Die Landbevölkerung kommt nicht auf solche Ideen, bei uns im Dorf z.B. wird hart gearbeitet, unsere Leute sind weit entfernt von faschistischen Anwandlungen. Im Westen wird Rußlands Präsident Wladimir Putin mittlerweile als Schurke dargestellt, als Diktator, neuer Zar oder gar als Wiedergänger von Adolf Hitler. Im März ist die Krim Teil Rußlands geworden – wie beurteilen Sie Putins Politik?
Über Putin kann ich nichts Schlechtes sagen. Was hat er denn Böses gemacht? Er hat die Krim nicht zuletzt deswegen genommen, weil er seine Flottenbasis in Sewastopol sichern wollte. Ihm blieb doch nichts anderes übrig, weil es sonst nicht lange gedauert hätte, bis die NATO den Stützpunkt übernimmt. Die Krim hat sich per Referendum von der Ukraine getrennt – aber auch im Osten des Landes, vor allem im Donbass, wird eine solche Volksbefragung gefordert. Wie stehen Sie dazu?
Zunächst ist es so, daß die Leute in Charkiw, Lugansk, Donezk und anderswo es gründlich satt haben, die Herrschaft der Oligarchen mit ihrer Arbeit zu finanzieren. Eine Trennung von der Ukraine steht bei ihnen keineswegs im Vordergrund. Historisch gesehen sind diese Gebiete ebenso wie die Krim russische Erde. Der frühere Staatschef der UdSSR, Nikita Chruschtschow, hatte die Halbinsel Krim der Ukraine geschenkt – und jetzt ist dieses Geschenk eben wieder an den rechtmäßigen Besitzer zurückgegangen.

Daß sich der Südosten ebenfalls trennen will, sehe ich im Moment nicht; die Menschen dort betrachten sich durchaus als Ukrainer. Sie haben doch völlig recht, wenn sie verlangen, daß sie unbehelligt russisch sprechen dürfen und auch das russische Fernsehen empfangen können. Das lassen sie sich mit Sicherheit nicht nehmen, und dafür werden sie auch kämpfen. Bei der Fahrt über Land fallen einem ungezählte Ruinen auf – stillgelegte Betriebe, zerfallende Stallungen. Das Verkehrsnetz spottet jeder Beschreibung, Verbindungsstraßen zwischen Millionenstädten ähneln über weite Strecken einem Panzerübungsgelände. Einheimische versichern, daß es früher viel besser war – warum ist alles so verkommen?
Das kann man in Ordnung bringen, die Ukraine ist im Grunde genommen ein reiches Land. Die Firmen sind auch reich, mein Betrieb z.B. ist sehr profitabel, ich kann meine Leute gut bezahlen. Der Staat aber ist arm, die Politiker haben sich am früheren Volkseigentum und an den Steuereinnahmen bereichert und alles Geld ins Ausland geschafft. Die Ukraine wäre also durchaus in der Lage, alles selbst zu finanzieren. Wie soll man das ändern? Etwa durch eine neue Oktoberrevolution?
Als erstes muß sichergestellt werden, daß das Geld in der Ukraine bleibt. Wir müssen unterbinden, daß die Oligarchen alles ins Ausland schaffen. Es würde wenig Sinn machen, z.B. die Landwirtschaft wieder in Kolchosen und Sowchosen zu organisieren. Wie gesagt: Das hier erwirtschaftete Geld muß auch hierbleiben und für unser Land – z.B. in die Infrastruktur – investiert werden. Der Staat muß wichtige Elemente wieder in seine Hände bekommen, es ist doch alles verhökert worden: Elekroindustrie, Kraftwerke, Eisenbahnen etc.

Es geht nicht darum, dem kleinen oder mittleren Unternehmer wieder etwas wegzunehmen. Aber alles, was mit Energie und Wasserversorgung, mit der Verkehrsinsfrastruktur etc. zusammenhängt, muß wieder in Staatshand kommen. Haben die Menschen zu Sowjet­zeiten besser gelebt?
Für die Arbeiterklasse war die Sowjetunion eindeutig besser: Sozialleistungen wie die Gesundheitsversorgung waren umsonst, es wurde viel für Bildung, Sport und Kultur getan, sie hatten Arbeit und ein ausreichendes Einkommen, die Rentner konnten menschenwürdig leben. In der Sowjetpolitik gab es viele soziale Elemente, die heute verschwunden sind. Wie beurteilen Sie den Zustand der ukrainischen Streitkräfte?
(lacht) Streikräfte? Haben wir nicht mehr, die haben sich aufgelöst – materiell wie moralisch. Jetzt wird aber eine neue Nationalgarde gebildet …
Die brauchen wir nicht, aber eine neue nationale, patriotische Idee wäre nötig. Haben Sie Angst, daß es zum Krieg kommen könnte, zum Bürgerkrieg?
Nein. Ich glaube nicht, daß dieser Vulkan ausbricht. Die Rechten werden sich nicht durchsetzen, sie werden von nur zehn Prozent der Bevölkerung unterstützt, maximal.

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