Donnerstag, 28. Juli 2016

(II) Ein Kessel ERLESENES (6-10)


(II) Ein Kessel ERLESENES (6-10)

Gehortete Zitate aus der schönen Literatur, die ich sehr mag, geschrieben von gerne gelesenen Autoren, sowohl aus der Belletristik als auch aus politischen Streitschriften. In loser Folge ab sofort in meinem Blog nachzulesen. Warum? Weil die Textauszüge oftmals Dinge benennen, die aktueller nicht sein können. Wer mag, leiste sich das geistige Vergnügen.

(10) Kazimierz Brandys: „Briefe an Frau Z. Erinnerungen aus der Gegenwart 1957-1961“, Verlag Volk und Welt, 2. Auflage 1974.
Lebenssinn, S.113:
Die Woge der amerikanischen Zivilisation hat dem westlichen Europa neue Spannungen, Raum- und Zeitraffungen gebracht, den Boom und die geistige Laizisierung, gestützt auf das wundertätige System der Fließbandproduktion und -technik – sie schuf jedoch gleichzeitig eine neue psychische Rutschbahn, die mit der Vernichtung des Lebenssinns, dem Verlust des Lebensziels, der Leere im Herzen droht. Die kosmetisierten Greisinnen hinter Lenkern aus synthetischen Massen, die wie Elfenbein aussehen, heben gern einen und sind nicht glücklich. (…) Die neue Literatur ist eine Auflehnung – nicht gegen Heuchelei, Not oder Ausbeutung, sondern gegen die Wirklichkeit, die nicht mehr genügt. In der saturierten, organisierten, zweckbestimmten Existenz verbirgt sich die Angst vor den Fehlern eines Ziels, und, sagen wir es, damit die Rechnung stimmt., auch die Angst vor den Zielen, die sich die Ideologie stellt.

Interesse am Mitmenschen, 319:
Jawohl, die meisten Zeitgenossen kümmern die fachlichen, beruflichen Qualifikationen des Menschen mehr als seine psychische Qualität. Sie fragen nicht, wie er ist, sondern was er macht.

(9) Hajo Herbell: „Herztöne. 19 kurze Texte und eine wahre Geschichte“, NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Qwesterheide (2002)

Zweifel, Seite 71/72:
Ich habe sie ja, ich habe meine Ideale, meine Vision, wenn Sie so wollen, bis heute nicht dahingegeben. Aber Zweifel? Du liebe Güte, wer hätte angesichts vieler realsozialistischer Praktiken nicht zweifeln sollen. Gewiss, diese gab es auch, die vom Zahn des Zweifelns nicht genagt wurden oder werden, schlichte Gemüter, Langsamdenker oder Garnichtdenker, es tut mir leid, vielleicht sind es ja gute und wohlmeinende Menschen, aber von beschränkter Urteilskraft sind sie trotzdem. (…) Ohne Intelligenz und ohne Zweifel ist eine moderne sozialistische Politik überhaupt nicht denkbar. Zweifel, Abwägen, Nachdenken, Absage und die unermüdliche Suche nach Neuem, Zeitgemäßem, dem zur Politik werdenden vielzitierten Gebot der Stunde, das ist nicht die Absage an einen sozialistischen Standpunkt, sondern es ist aller Wahrscheinlichkeit nach der einzige sozialistische Standpunkt, der in der Welt von heute denkbar ist.

Verdummung, Seite 50:
Sehen wir nicht, wie die Neunte selbst aus den Silvesterprogrammen mehr und mehr zurückgenommen wird? … sie wird verfratzt abgeleiert als sogenanntes Europa-Signal? Und wir hören sie angewidert als den Sound von Fernsehwerbungen für Käse oder Hygieneartikel. Wir sind Zeugen dafür, wie an die Stelle des Gesprächs, auch der Kontroverse, des produktiven Streits das nervtötende Durcheinanderreden der Talk-Runden tritt, an die Stelle einer nachdenklichen Unterhaltung zwischen zwei oder mehreren Leuten das Chatten. Nicht mehr die Aufklärung, die Ratio, der gesunde Verstand regieren die Stunde, sondern die Verdummung, Esoterik, Köhlerglaube, Wundermänner, Handleser und Missionare von Ersatzreligionen erleben Hochzeiten. Weil sie die Gegenwart nicht verstehen und die Geschichte schlecht kennen, auch nicht wissen, wo die Kräfte ruhen, an denen man sich aufrichten kann, fliehen viele in die Finsternis der Vor-Vorzeiten, der Apokryphen, der Prophezeiung des Weltuntergangs (…).

(8) Fritz Raddatz: „Unruhestifter“, Erinnerungen, List Taschenbuch, Ullstein Verlage, 2. Auflage 2006

Unruhestifter, S. 436:
Die Bundesrepublik ist zwar als Staatsform eine Republik; aber sie ist es ihrer inneren Verfasstheit Moral, Geistigkeit, ihrer politischen Hygiene nach nie gewesen. Sie hat die Nazizeit so wenig ´bewältigt` wie die Weimarer Republik die Kaiserzeit; beide Staaten übernahmen den komplett erhaltenen Beamten-, Militär- und Wirtschaftsapparat des alten Staates. Beide Staaten übernahmen den alten Gefühlshaushalt und Wertekatalog. Beide Staaten waren/sind innen morsch.


Seite 240: Für die Menschen zumindest meiner Generation war Geld nicht der Maßstab, es bestimmte nicht den Lebenshorizont. Verwirklichung fand in der Arbeit statt. (…) Träume galten nicht dem Haben, sie galten dem Sein.



(7) Daniil Granin: „Garten der Steine. Reisebilder“, Verlag Volk und Welt, Berlin, 1973

Rebellion der Jugend, Seite 134:
Sie rebellieren gegen das Spießertum. Rebellion – was anderes haben sie nicht im Sinn. Rebellion ohne besondere Ideen, ja ganz ohne Ideen. Sie scheuen sich nach dem Sinn des Lebens zu suchen, nach Idealen, die dann doch vom Leben verunstaltet werden. Sie denken etwa so: Lügt euch ruhig was vor, aber ohne uns. Wir spielen nicht mit. Diese Welt lässt sich nicht verändern. (…) ...wir tanzen, lasst uns in Ruhe!

(6) Tschingis Aitmatow: „Abschied von Gülsary“, „Der weiße Dampfer“, „Über Literatur“, Verlag Volk und Welt, Berlin 1974

Entideologisierung, Seite 364:
(Aus der Rede zum 100. Geburtstag Gorkis)
Und schon wieder begehen Menschen an Menschen neue Bestialitäten, jetzt, in dieser Minute, in dieser Sekunde... (Aitmatow bezieht sich hier auf den Vietnam-Krieg, H.P.) In diesem Ringen der Welten, in diesem Brodeln der Geschichte, inmitten des Chaos und Wirrwarrs unter einem Teil der westlichen Intelligenz, der Desillusionierung und Ratlosigkeit unter dem anderen, angesichts offener Appelle zur „Enthereoisierung“ und „Entideologisierung“ der Kunst, angesichts der Zweifel am menschlichen Verstand und der Behauptung, daß der Mensch „inkommunikabel“ sei mit seinesgleichen und seiner dinglichen Umwelt, angesichts der versteckten und unverhüllten Bemühungen , dem Menschen das Bewußtsein seiner Menschen- und Bürgerpflicht zu rauben, um so sein Verantwortungsgefühl zu zerstören inmitten der hemmungslosen Verherrlichung der Gewalt, der niedrigen Instinkte und des Universalmodells vom berüchtigten „Übermenschen“, entgegen dem betäubenden Boom „massenproduzierter“, „kommerzieller“, „industrieller“ und sonstiger Erzeugnisse von „Superkultur“, mit deren Hilfe die Widersprüche vertuscht, die Spießer aber beruhigt und übertölpelt werden sollen , als Fanal gegen all diesen Krampf ertönt immer wieder von unserem Ufer die nie verstummende Stimme Gorkis: „Mit wem seid ihr, Meister der Kultur?“

Ideenlosigkeit, Seite 357:
(Aus der Rede zum 400. Geburtstag Shakespeares)
In den positiven Helden Shakespeares finden wir eine unendliche Tiefe der menschlichen Seele, die jeden Rahmen sprengt. (…) Ich denke, das muß im Zusammenhang mit dem Shakespeare-Jubiläum auch deshalb erwähnt werden,, weil es im Westen Versuche gibt, Literatur und Kunst zur Ideenlosigkeit zu verleiten, zur Absage an die erzieherische Wirkung des positiven Helden im Buch und auf der Bühne, zur abstrakten Darstellung der Wirklichkeit. (…) Zweifellos, seit Shakespeare hat sich auf unserem Planeten vieles verändert. Doch das Wesen der Kunst und ihre berufung sind gleich geblieben: den Interessen des Volkes zu dienen, den Menschen und das Leben wahrhaft, realistisch darzustellen.

Belesenheit, S. 348:
(Aus einem Artikel)
Bildung, Belesenheit, ein weiter Horizont, die Fähigkeit, bildhaft zu denken – all das ist ein wichtiges Fundament, es reicht aber nicht aus. Nur wer die komplizierten Lebensprozesse gründlich und selbständig zu analysieren gelernt hat, kann zu einem Künstler mit ausgeprägter Individualität werden.







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