Sonntag, 18. September 2016

In die Stille gerettet

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1. Leseprobe zum Buch „In die Stille gerettet“ - Autor Harry Popow


Es ist einer jener Tage im frühlingshaften März, von denen man sich wünscht, sie mögen andauern, in diesem Zustand der heiteren Gelassenheit, so würzig die Luft, so schwerelos die menschliche Seele, so eins kann sie sein mit der Natur, so ausgeglichen und glücklich darf man sich fühlen. Da sitzt er nun, ein in die Jahre gekommener grauhaariger Mann, auf der Terrasse am kleinen schwedischen Holzhäuschen, über ihm der unendlich kobaltblaue Himmel. Weiße Schwäne ziehen in langer Kette mit gleichmäßigem Flügelschlag zu den stillen Seen in den weiten nordischen Wäldern. Noch sind die Baumäste kahl, doch dicht am Haus haben sich bereits Schneeglöckchen und Krokusse eingefunden, verpackt in einem Erdboden, der des Nachts noch in Eiseskälte erstarren wird. In den Niederungen liegen die Sümpfe noch unter brüchigem Eis. Irgendwo bellt ein Hund, eine Kreissäge kreischt. Der Träumer in ihm ist nicht totzukriegen.



Plötzlich ein Beben, dann ein Grollen, ein Donner, der über die Wälder kommt. Das Eis des Orrefors-Sees bricht auf mit lautem Getöse, gleich starken Explosionen. Diese Geräusche – da sind sie wieder, die Bilder von einst, sie drängen sich mitunter hinter seine Stirn: Er jagt als Ausbilder junge Männer über das Übungsfeld. Jahre danach greift er zum Kugelschreiber und schreibt über jene, wie sie sich plagen, wie sie das Notwendige meistern lernen. Ja, er hat als Offizier und Militärjournalist in der Nationalen Volksarmee zweiunddreißg Jahre mitgewirkt an einer Alternative zum Krieg, an einem Entwurf für ein großartiges Gesellschaftsgemälde. Darauf ist der einstige Oberstleutnant stolz. Nicht aber darauf, daß man im kleinen Land mit der Zeit vieles vermasselt hatte. Eine ganze geschichtliche Periode, ein Startversuch in ein menschenwürdigeres Dasein ist durch Unvermögen abgestürzt. Auf absehbare Zeit unwiderruflich. Verspielte Chancen! Und was dann kam ...

Nun aber aalt er sich in der Vormittagsstunde auf der Sonnenbank, freut sich darauf, mit Cleo, seiner Frau, auch heute wieder kilometerweit zu wandern, hin und wieder zu schreiben an seinen Tagebuchnotizen oder zu malen. An wärmeren Tagen wird er seine Staffelei in den Garten stellen, Farben und Pinsel bereit legen. Ja, er hat wieder Lust, seinem späten Hobby nachzugehen. Ihm schwebt ein Ölgemälde vor, mit roten Rosen, Tulpen, Dahlien, Gladiolen, Kapuzinerkresse. Er sieht sie schon vor sich, die sommerlichen Farbtupfer im Garten, und mittendrin das schwedische Holzhaus. Ja, das will er malen ...


Das kleine Schwedenhaus

Es ist bei weitem kein repräsentatives Traumhaus, in dem Cleo und Henry seit 1996 leben, eher ein bescheidenes, aber sehr schmuckes kleines Holzhäusel mit vier Zimmern. Ausreichend für sie, ihre tollen Kinder und Enkel, die, so oft es geht, gern zu Besuch kommen. Das Grundstück umfaßt einen 900 Quadratmeter großen Garten, bewachsen mit riesigen Haselnußhecken, drei imposanten Wacholdern und einer gewaltigen, etwas altersschwachen Birke. Das Haus hat – ganz schwedentypisch - zwei Eingänge, um in strengen Wintern bei Schneeverwehungen zwei Notausgänge zu haben. Im Wohnzimmer steht ein antiker weißer Porzellankachelofen, der bis zur Decke reicht. Dieser ist auch als Kamin nutzbar. Geheizt wird nur mit Holz, das es ja in Schweden zur Genüge gibt. Ein Durchgang führt zum Eßzimmer. Vom runden Tisch aus hat man nach allen Seiten einen herrlichen Blick in den am Grundstück angrenzenden Wald. Steigt man die Holztreppe hinauf, findet man zwei Zimmer mit schrägen Wänden, das Schlafzimmer in Hellblau mit weißen antiken schwedischen Möbeln, das Gästezimmer ganz in Rosé. Ein Schmuckstück auch das voll geflieste Bad mit Holzdecke und romantischen Badraummöbeln im gleichen Dekor. Außergewöhnlich schön ist die Herbstzeit. Dann liegt oft ein wenig Schwermut über dem stillen Ort Gadderos (im Glasreich Smaland gelegen) mit seinen roten, gelben oder braun-weißen Holzhäusern. Am frühen Nachmittag kriecht langsam aus den Wäldern die Dunkelheit hervor und hinter den Fenstern leuchten die Schwibbögen.


Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3

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