Donnerstag, 20. April 2017

Aus dem Herzen gesprochen...



NACHDENKEN ÜBER DIE MORAL DER RAUBTIERE…
von Ljubow Pribytkowa

Übersetzung und Zwischenüberschriften: Florian Geißler, Jena

Ein Hundeleben


Irgendwann wurde jetzt im Fernsehen gezeigt, wie ein Wettbewerb zwischen Modehündchen stattfand. Da sind eine kleine modische Hundedame im Samtkleidchen mit sorgfältig frisiertem Köpfchen und ein kleiner Rüde in einer sportlichen Hose… Und alles Ernstes wurde doch die Frage besprochen, wie man sein Wauwauchen noch schöner machen kann, um einen Preis zu bekommen. Auf einer riesengroßen Reklametafel in Irkutsk steht die Werbung – das Atelier für unsere treuesten Freunde ist geöffnet. Es ist nicht das erste Mal, daß mitgeteilt wird, daß im Jaroslawler Gebiet ein Hotel für Hunde eröffnet wurde, wo für eine gute Ernährung gesorgt ist und die „Lieblinge“ sogar mit Musik empfangen werden. So kann Herrchen sich in dieser Zeit unbesorgt auf Dienstreise begeben oder einen Besuch abstatten.

Zu gleicher Zeit werden in Rußland von Tausenden hungriger und entwurzelter Menschen – Erwachsener wie auch Kinder – die Abfalltonnen auf der Suche nach den Speiseresten durchwühlt. Und im Sommer sitzen Bettler mit ausgestreckter Hand in den Straßen, scharenweise ziehen durch die Wohngebiete hungrige Kinder: „Tantchen, geben Sie uns was zu Essen…“ Und jetzt erlaubt es das Gesetz,  die Armen, die längere Zeit ihre Miete nicht bezahlen können, einfach auf die Straße zu setzen. Ach, wie ist das Hundeleben für viele Menschen doch beneidenswert!


Habt ihr kein Gewissen, ihr Scheißkerle?

Nicht selten kann man heute im Fernsehen sehen, wie die Reichen sich vergnügen, wie sie mit dem Geld um sich werfen – zu Hause und auf den Kanaren. Regelmäßig kommen im Rundfunk und im Fernsehen Ratgebersendungen, wie man sein Grundstück in einen blühenden Garten mit Springbrunnen verwandeln und den Gartenteich mit dekorativen exotischen Pflanzen verschönern kann, oder wie man den Truthahn mit Mayonnaise aus Wachteleiern zubereiten kann.

Natürlich wäre es dumm zu sagen: „Habt ihr denn kein Gewissen, ihr Scheißkerle!“ Das Gewissen ist für diese bourgeoisen Lakaien nicht gerade ein gebräuchliches Wort. Wozu braucht man ein Gewissen, wenn seine Majestät der Markt die Regeln bestimmt. Mit dem Gewissen kann man nichts verdienen. Verdienen kann man nur, wenn man es verloren hat. Anders geht es nicht. Rundfunk und Fernsehen stehen diesen satten Herrschaften zu Diensten, sie befriedigen deren Bedürfnisse und Interessen. Und die Journalisten verkaufen den Herrschaften ihr Wissen und ihr Talent, naja – und das Gewissen bringt nichts ein. Sie passen sich an, um im Trend zu bleiben, und um ihren „Arbeitgeber“ – den Besitzer des Fernsehsenders oder der Zeitung – zufriedenzustellen. Die Starken dieser Welt sind diejenigen Angestellten, die ihren Herrschaften am Munde hängen, die halb gebeugt vor ihnen stehen, die alle ihre Anordnungen ohne Widerwort erfüllen: „Wie Sie wünschen, mein Herr!“

Die Reichen brauchen in den Medien keine Wahrheit, denn sie könnte ihnen gefährlich werden, könnte das schlafende Volk wecken, könnte ihrem Business schaden, könnte sie daran hindern, zu verdienen.


Das verführte Volk

Am leichtesten sind diejenigen Lohnarbeiter auszubeuten, die nicht viel brauchen, um sich zurechtzufinden, die alles nur oberflächlich beurteilen, die nicht nachdenken, die nicht zum Wesen einer Sache vordringen, die nicht schwarz und weiß, das Gute nicht vom Bösen, die Lüge nicht von der Wahrheit zu unterscheiden vermögen. Für die Bourgeoisie ist es von Vorteil, wenn sich die Menschen Illusionen hingeben, an Utopien glauben und sich von einer Welt verlogener Werten beeinflussen lassen. Sollen sie doch in ihrer arbeitsfreien Zeit in den Nachtklubs herumhängen, ihre schwerverdienten Rubel in den Spielotheken verplempern, irgendwelchen Klamotten, den neuesten Handys oder Computern hinterherjagen, ihre Genitalien mit Piercings verzieren, den Wanst voller Bier schütten und sich nachts in der Glotze die Ärsche nackter Weiber anschauen! Sollen sie doch! Nun ist auch Rußland von dem Virus „GIER“ gepackt. In seinem Artikel hat der amerikanische Schriftsteller John de Graaf dieses Verbraucher-Syndrom treffend beschrieben. („Society“, 14. Februar 2005).

Die vieltausendfache Armee der Medienmacher, besonders des Fernsehens, verführt und betrügt schon zwei Jahrzehnte lang das russische Volk, manipuliert geschickt sein Bewußtsein und führt erfolgreich einen psychologischen Krieg. Sie entführt die Menschen in eine virtuelle Welt, verkrüppelt ihre Seelen und verwandelt sie in Zombis.


Die verwilderten Kinder…

Wirkliche Kunst ist von den Bildschirmen verschwunden. Das schöpferische Prinzip des sozialistischen Realismus hat den Lesern und Zuschauern echte Kultur des menschlichen Daseins, höchste Moral und Ethik vermittelt. Deren Stelle haben nun billige westliche und einheimische Massenbedarfsartikel eingenommen, die auf verblödete Spießer berechnet sind, denen der Nervenkitzel in Szenen von Sex, Mord, Gewalt, Extremsport und das Gekaspere ganzer Heerscharen dümmlicher Comedians und unbegabter Schauspieler gerade genug sind.

Na, schön – und so zerstechen die verwilderten Kinder die verschiedensten Körperteile mit irgendwelchem „Schmuck“ und „verzieren“ ihren Körper mit Tattoos. Auch viele uns bekannte Sänger verhalten sich jetzt auf der Bühne wie die Papageien. Und wenn sogar der mehr ganz junge, schweißtriefende Sänger Waleri Leontjew, der von Putin einen Orden erhielt, auf der Bühne mit einem Piercing im Nabel herumsprang wie im tiefsten Dschungel Afrikas … kann man noch tiefer fallen?


Die deformierte „Zivilgesellschaft“

Das russische Fernsehen erhöht die Menschen nicht, es demütigt sie. Es macht ihre Seele nicht reiner, reicher und schöner, sondern stößt sie in den Schmutz. Die Bourgeoisie braucht keine Lohnarbeiter mit hoher Kultur und vielseitigem Wissen, mit Seele, Herz  und Verstand, die sich in der Politik zurechtfinden, die sich als Mensch fühlen. Sie fürchtet die Solidarität der Arbeiter, das entwickelte soziale Bewußtsein, den Klassenstolz der Werktätigen, die Kollektivität und den Internationalismus wie das Feuer.

Die Bourgeoisie braucht keine gebildete Arbeiterklasse. Allein das Wort „Klasse“ jagt ihr einen Schauder über den Rücken. Sie braucht nur eine amorphe Menschenmasse unter dem schönen Titel „Zivilgesellschaft“. Doch die nationale Vielfalt der Gesellschaft ist vorhanden, und die Bourgeoisie nutzt sie in ihrem Interesse. Sie wiegelt die Völker gegeneinander auf. Der Nationalismus dient ihr als psychologische Waffe. Seitdem sie in Rußland an der Macht ist, befaßt sie sich mit dem Schüren nationaler Konflikte, um die Aufmerksamkeit der Menschen von den sozialen Problemen, von der Pest des „demokratischen“ Kapitalismus abzulenken.


Religiöse Intoleranz

Dabei hilft ihr die Russische Orthodoxe Kirche. Eine Hand wäscht die andere. Anfang der neunziger Jahre haben die Kirchen den „Demokraten“ geholfen, haben die Kommunisten von der Macht entfernt, haben ihre atheistische Stimme der Vernunft und der Wissenschaft zum Schweigen gezwungen. Aus Dankbarkeit verschleppt die Kirche nun die Menschen immer mehr in die Finsternis, ins Mittelalter zurück, ruft sie auf zur Demut, zur Ergebenheit und zum Einverständnis.

Die Pfaffen selbst dulden keine Toleranz. Und der Staat unterstützt sie dabei. Der bekannte orthodoxe Missionar  Sergij (Rybko) hat als Vorsteher der Gemeinschaft des Heiligen Geistes der Apostel dem Korrespondenten des Regionalsenders ein Interview gegeben: „Ich hoffe nur, daß sich noch einige normale russische Leute finden, die etwas ähnliches tun. Alles was mit Lenin und mit dem Kommunismus überhaupt verbunden ist, das ist für mich als russischen Menschen, zweifellos ein Übel. Die Toleranz hat ihre Grenzen. Es ist allerhöchste Zeit, Lenin hinauszuwerfen. Ich segne diese Menschen, die das gemacht haben, und ich wiederhole: Hoffentlich finden sich noch irgendwo in Rußland Menschen, die etwas ähnliches tun. In jeder Stadt, und sogar in kleinen Ortschaften gibt es eine Leninstraße, überall steht dieses Idol. Mir ist es als russischem Menschen äußerst unangenehm, das zu sehen, und mir juckt es in den Fingern, etwas abzuschlagen oder mit ihn mit Farbe zu begießen.“

Das ist sehr offen gesprochen. Doch es war ohnedies bekannt, daß die Kirche immer der Klasse der Besitzenden zu Diensten stand. Sie half, die Menschen auszuplündern und auszubeuten, sie rief die Menschen dazu auf, ihr Elend und die Ungerechtigkeiten zu ertragen und den verlogenen Versprechungen ihrer Unterdrücker zu glauben. Die verdummten und eingeschüchterten Menschen verstanden es nicht, auf der Erde einen Weg zu finden, und sie begannen, ihn im Himmel zu suchen.


Der Antikommunismus des Pfaffen Rybko

Doch in der heutigen Klassengesellschaft gibt es einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den reichen und den armen Menschen. Zwischen ihnen kann weder Frieden noch Einvernehmen herrschen. Solange sich der Arbeiter mit der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit abfindet, ist er Sklave und Lakai. Die Peitsche sehnt sich nach einem gekrümmten Rücken und einem ergeben gebeugten Haupt. Und die Pfaffen verstehen ihre Sache gut. Niemals werden sie das Volk zum Widerstand, zum Protest, zur Kampf aufrufen. Vielmehr werden sie die Kämpfenden verurteilen, sie zwingen. Wir haben unsere Geschichte noch immer nicht vergessen, als der große Lew Tolstoj wegen seines Freisinns vom Synodalen exkommuniziert wurde.

Der Pope Sergij (Rybko) gibt sich großmütig: „Wenn jemand den Kommunismus sehen will, dann soll er in kommunistischen Reservaten leben…“ Vielen Dank, Herr Abt! „Ich habe eine Kirche in der Straße der Sowjetischen Armee, das ist mir sehr unangenehm“, so schwatzt er weiter. „Sie müßte in der Straße der russischen Armee stehen, besser noch – der weißen Armee.“

Wer wo leben wird, und wer wo stehen wird oder auf dem Glockenturm hängen, wird das Leben zeigen. Noch ist nicht aller Tage Abend. Glaubt dieser Herr Rybko wirklich, daß die Konterrevolution alle Menschen zu gehorsamen Untertanen gemacht hat, alle in Angst erstickt hat. Die Antwort auf seinen steinzeitlichen Antikommunismus, auf seine offene und finstere Bosheit gegenüber den bis heute noch der lebenden sowjetischen Menschen, wird nur der Haß sein. Die Offenbarungen eines solchen Feindes werden sie ehren – und sie machen uns stärker. Es wird eine Zeit kommen – und wir werden wissen, was wir zu tun haben, wenn jemand ein Stück des Marmor von einem sowjetischen Denkmal abschlagen will, und wir werden die Kalaschnikow fester an uns drücken… Wie heißt doch das russische Sprichwort? Wer zuletzt lacht, lacht am besten.


Katastrophale Auswirkungen der Konterrevolution

Über zwanzig Jahre hat nun der „zivilisierte“ Markt auf dem Territorium der UdSSR gewütet. Er hat fast alles ruiniert – die Industrie, die Landwirtschaft, die Kultur, die Wissenschaft, die Bildung, das Gesundheitswesen und die Armee. Doch das tragischste Ergebnis der Konterrevolution ist die Zerstörung der Moral, des geistigen Lebens des einstigen Vortrupps der Menschheit unseres Planeten – des sowjetischen Volkes. Die hohe Moral der Kameradschaftlichkeit und des Kollektivismus, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, des proletarischen Internationalismus und der Völkerfreundschaft – das alles wurde zerschlagen.

Einst in meiner Zeit als Dozentin an der Irkutsker Pädagogischen Universität, äußerte sich ein Student der Geschichtswissenschaft bei einem Philosophie-Seminar sehr befremdet darüber, als er von mir hörte, daß letzten Endes die gesellschaftlichen, und nicht die persönlichen Interessen, das Verhalten des Menschen bestimmen, weil der Mensch ein soziales, nicht nur ein biologisches Wesen ist. Er sagte mir: „Aber Ljubow Andrejewna, das ist doch längst widerlegt…“ Sogar seine Kommilitonen haben darüber gelacht.

Die Äußerungen dieses jungen Wirrkopfes haben mich nicht überrascht. An der historischen Fakultät gibt es einen Wissenschaftler namens Iwanow, der sich herzlich wenig an seine Verwandtschaft erinnert – ein Speichellecker der heutigen Machthaber. Seit Jahren wird er nicht müde, auf die sowjetische Vergangenheit zu spucken. Bei einer Studentenkonferenz hatte eine Dozentin voller Stolz verkündet, daß ihr Großvater ein Kulake gewesen sei. Und der Vater ebendieses Jungen, ein hier arbeitender Kunstwissenschaftler, war überhaupt glücklich, daß mit der Sowjetmacht endlich Schluß gemacht wurde, wo er doch selbst ein großes Scherflein zu dieser „gottgewollten“ Sache beigetragen hat. Und heute schreitet er hoch erhobenen Hauptes durch die Fakultät. Wie sollte man sich da über die Ansichten seines Söhnchens, dieses unreifen Jünglings wundern?!


Die Allmacht der bürgerlichen Massenmedien

In russischen Medien wird Tag für Tag die Schlauheit des Menschen besungen, Cleverness, geschäftliches Geschick und die Fähigkeit, mit allen Mittel Erfolg erzielen. So prägen sich den Menschen ein, daß jeder nur für sich selbst verantwortlich ist, stärker als andere zu sein hat und es verstehen soll, andere zu überholen. Geb’s Gott, daß er nicht „ein schwaches Glied“ wird, um nicht aus dem menschlichen Rudel hinausgeworfen, zertreten und zerstört zu werden. Drisch mit dem Ellbogen deine Umgebung auseinander, denn nur der Starke hat ein Lebensrecht in dieser wahnsinnigen Marktwelt.

Es wäre nicht so tragisch, wenn die Psychologie des Individualismus nur eine Einzelerscheinung, eine Ausnahme von der Regel wäre. Doch leider hat Rußland den Weg der kapitalistischen Entwicklung eingeschlagen. Und das bedeutet, daß im Land die Bourgeoisie herrscht: die Besitzer der Betriebe und Fabriken, der Bergwerke und Minen, der Banken und des Bodens. An der Macht ist eine Klasse der Raubtiere, obwohl leider noch nicht alle Menschen deren Wesen erkennen. Sie glauben noch an die guten Millionäre, die Wohltäter, an einen „guten“ Präsidenten, gute Minister und Abgeordnete. Sie gehen voller Naivität zu den kostenlosen Veranstaltungen, die Wahlen genannt werden, und hoffen mit deren Hilfe, ihr Leben danach „einzurichten“…

In den Händen der Bourgeoisie befinden sich Rundfunk und Fernsehen, die Zeitungen und Zeitschriften, die Verlage und die Theater. Wenn es auch den Leser nicht wundert, die Bourgeoisie bestimmt die Schul- und Hochschulprogramme, und nicht das Bildungsministerium mit Onkel Fursenko an der Spitze. Die Geldsäcke bestimmen jetzt unsere Psyche, unsere Moral und die Kultur. Natürlich auf ihre Art und Weise. Und sie bedauern darum keineswegs die Millionen Menschen, wenn sie die räuberische Moral der Herren zu unserer Moral machen. Nicht nur westliche, sondern auch einheimischen Fernsehserien, sondern auch das Leben überzeugen uns davon, daß durch die „Zivilisation“ des Marktes, zu der wir jetzt das „Glück“ haben, auch dazuzugehören, der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Und obwohl die satten Herrschaften ihre eigene Moral haben, und die Sklaven und Lohnarbeiter eine andere – beeinflußt der bürgerliche psychologische und informative Druck destruktiv die Geisteswelt des einfachen Volkes.


Krämerseelen – und die aufkeimende Wut im Volk

Natürlich „erzieht“ in erster Linie das Leben selbst den Menschen. Gerade der Markt, die Macht des Kapitals, die Spaltung der Gesellschaft in einander feindlich gegenüberstehende Klassen, in Reiche und die Arme, in Satte und Hungrige und die ausgeprägten privatkapitalistischen Kleinkrämerbeziehungen – hier muß man die Erklärungen suchen, was mit uns geschieht.

Einerseits hat der Markt die Moral der Menschen durch seine Konsumpsychologie besiegt – Habgier, Neid und Egoismus, Gleichgültigkeit und Individualismus und eine wahnsinnige Jagd nach illusorischen Freuden. Die Moral verfault. Andererseits ist das Erwachen der Menschen schon bemerkbar – immer mehr Menschen sind von Ungleichheit und Ungerechtigkeit betroffen. Es reifen die Früchte des Hasses, es wächst die Empörung und der Unmut wird deutlicher hörbar. Im Bus sagte ein angetrunkener Mann, aus dem Fenster auf Solnetschny-Wohnbezirk von Irkutsk, auf die prächtigen Villen an der Mündung der Angara schauend, dort, wo die Städter sich einst erholten, voller Bosheit: „Wahrscheinlich werden sie bald brennen!“


Über die Dummheit des individuellen Terrors

Sehr langsam, aber sicher entwickelt sich bei den Arbeitern das Verständnis, daß es in dieser Welt, wo das Geld regiert, wo der Kult der Raffgier und des Profits herrscht, für ihn und seine Kinder keine Zukunft gibt. Vor gar nicht allzu langer Zeit hat im Gebiet von Lugansk in der Ukraine im Betrieb „Lissitschansker Soda“ der Reparaturschlosser Roman Kamynin „seinem Gewissen folgend“ den stellvertretenden Direktor erschossen. Das Elend hatte ihn an der Gurgel gepackt. Monatelang hatten die Herren den Lohn nicht bezahlt. Den Arbeitern wurde wegen Nichtbezahlung das Telefon abgeschaltet. Die Kinder wurden aus demselben Grund aus dem Kindergarten verwiesen – wegen Nichtbezahlung. Die liebedienerische Gewerkschaft hat (ganz wie bei uns!) es abgelehnt, zu helfen … und offenbar war das Maß der Geduld überfüllt.

Der Arbeiter sah für sich keinen anderen Ausweg. Er hatte auch nicht verstanden, daß man mit der Bourgeoisie, mit einem so starken Klassenfeind, als Einzelner nicht zurechtkommen kann. Den Reichen hilft nicht nur ihr Geld, dank dessen sie sich ganze Sicherheitsfirmen leisten können. Zu ihrem Schutz wurde auch ein riesiger Staatsapparat geschaffen – die Duma, die Verwaltungen, die Regierung, die Polizei, die Sicherheitskräfte und Spezialeinheiten, die Gerichte und die Armee. Die Menschen sollten begreifen, daß die Parlamentarier die Gesetze nicht in unserem Interessen verfassen, und daß dieses riesige Rechtsschutzsystem nicht unserem Schutz dient. Der Staatsapparat wurde von den Reichen für die Reichen geschaffen, für die Regelung ihrer Angelegenheiten und zum Schutz ihrer Interessen.


Die „neuen Russen“ und die Armut des Volkes

Nicht alle diese Satten, die wir fast liebevoll als „die neuen Russen“ bezeichnen, verstehen, daß sie auf einem Pulverfaß sitzen. Auch ihr Personal – die Politiker und Journalisten – verstehen das nicht. Deshalb werden sie immer frecher. Nachdem sie uns nun bestohlen haben, stellen sie ihren Reichtum, ihren Wohlstand, ihre Macht und ihren Einfluß immer offener zur Schau. In Irkutsk wurde das Kino „Freundschaft“ in ein Kultur- und Bildungszentrum des Lyzeums № 47 umgewandelt. Bei gewöhnlichen Kulturveranstaltungen kommen Dutzende protziger Wagen angerauscht, und die geschniegelten Eltern in teuren modischen Klamotten setzen ihre fetten Welpen ab, korrigieren noch liebevoll die Schleifchen und schneeweißen Hemdkragen auf deren Kostümchen.

Und ein paar hundert Metern von diesem Kultur- und Bildungstempel entfernt graben hungrige und bettelarme Kinder in den Abfalltonnen. Freilich, man braucht darauf nicht so viel Aufmerksamkeit zu verwenden, in Rußland sind es nicht gar so viele, irgendwie um die 5-6 Millionen…

Die Behörden können da natürlich nichts machen. Die Hauptsache war zu jener Zeit ein lautstarkes Kikeriki, daß jetzt der Kampf gegen die Armut anfängt. Und dann hat man als erstes Millionen Geringverdienern die Ermäßigungen entzogen, die sie hatten. Das hat wieder einmal gezeigt, daß hier nicht der Kampf gegen die Armut geführt wird, sondern daß der Kampf gegen die armen Menschen in eine neue, grausamere Phase eingetreten ist.


Wie tief sind sie gesunken … !

In der Zeitschrift „Sowjetskaja Rossija“ rief eine Studentin in einem Leserbrief dazu auf, darüber nachzudenken, wer moralisch tiefer gesunken ist, derjenige, der bettelt und in Abfalltonnen wühlt oder derjenige, der zur Arbeit ins Büro, ins Labor, in die Schule, die Poliklinik oder in den Hörsaal geht, seinen Lohn abkassiert und sagt: „Alles ist o.k.!“. Seltsamerweise liegt die Antwort nicht auf der Hand.

Meine alte Bekannte aus Sowjetzeiten war Sekretär der Parteiorganisation in der Fakultät – prinzipienfest und unversöhnlich gegenüber Mängeln. Jetzt arbeitet sie in einer Bildungsfirma und ist, wie es scheint, sehr beunruhigt über die Intrigen dort. Sie lebt jetzt von einem bescheidenen Gehalt, wie die Mehrzahl der Pädagogen. Doch ein paar Monate hat sie gespart, um mit Eleganz ihr Jubiläum zu feiern. Vierzigtausend (660 €) hat sie zusammengekratzt, um ihren Kollegen Sand in die Augen zu streuen, auch denen, die sie nicht respektieren und ihr ständig irgendwelche Schwierigkeiten machen.


Quo vadis, Rossija?

Währenddessen sitzen junge Kommunisten, mutige Burschen aus der nationalbolschewistischen Partei in irgendwelchen Gefängnissen, weil sie einen Aufruf gegen die volksfeindliche russische Macht gestartet haben. Sie brauchen dringend moralische und materielle Hilfe. Doch es ist sehr schwer, da etwas zu erwarten, weil bei den ehemaligen Kommunisten das schützende Dach weggeflogen ist…

Hier und da gibt es spontane Hungerstreiks, dort streiken die Arbeiter, die Lehrers, die Ärzte. Doch der größte Teil unserer Intellektuellen ist sich dazu zu fein. Sie können niemanden zu etwas bewegen, niemanden kann begeistern, sich verstehen es nicht einmal, dem Volk den Ausweg aus seiner Tragödie zu weisen. Der größte Teil dieser sogenannten Intellektuellen lebt vor sich hin wie Gras. Sie haben kein Solidaritätsgefühl mit den Kämpfenden, kein Mitgefühl und keine Anteilnahme. Es fehlt ihnen die wichtigste Komponente, die moralische Reife ihrer Persönlichkeit.

Die Intelligenz wurde zum selbständigen Denken erzogen, doch nun fürchten sie sich davor. Angesichts der Leiden des Volkes zerreißt es ihnen nicht das Herz. Sie verharren in der Pose des „Bald-auch-Almosenempfängers“, vor Angst gelähmt, die Reihen der Arbeitslosen aufzufüllen. Und noch ist der Gedanke nicht verflogen, daß man ja auch zur russischen „Elite“ hätte gehören können – wie der Präsident und die Minister, die Abgeordneten und die Banker, wie allerlei Direktoren, Richter und Notare und wie die übrigen Kapitalisten. Objektiv gesehen sind sie unsere Feinde. Doch nicht um sie geht es hier. Es geht um diejenigen, die zur Armee der Lohnarbeiter hinzugekommen sind, die sehen können, in welche Katastrophe unser Land geraten ist, die aber schweigen, kuschen und sich zurückhalten. Das ist Verrat! Sie verraten sich selbst, ihre Kinder, ihr Volk und ihre Heimat. Oh, unglückseliges Rußland!

Quelle:

Ljubow Pribytkowa: Materialnaja sila dolshna bytj… Polititscheskaja publizistika, Irkutsk, 2011, S.228-236 (russ.)

Übersetzung und Zwischenüberschriften: Florian Geißler, Jena.



Meine Meinung in diesem Blog:

Aus dem Herzen gesprochen


Liebe Frau Ljubow Pribytkowa, mit Ihrem Beitrag über die Moral der Raubtiere habe ich mich persönlich sehr gefreut, sicherlich auch sehr viele aufrechte Deutsche, insbesondere einstige DDR-Bürger. Sie halten allen jenen einen Spiegel hin, die unter kapitalistischen Bedingungen ihr Leben und Dasein fristen müssen. Ein Zustandsbericht allererster Güte. Herzlichen Dank. Zu bedenken gebe ich allerdings, dass der Ausweg aus diesem Dilemma, vor allem der Widerstand gegen jegliche neuerliche Kriegsgefahr, die von den USA , der NATO und dem kriegslüsternen Deutschland ausgehen, nur von den Völkern kommen kann. Vom Subjekt der derartig entmoralisierten Schichten, von Gegnern des kapitalistischen Systems. Ich betrachte Russland und China – trotz auch bei ihnen herrschenden privaten Eigentumsverhältnissen -, als die Garanten für die Stabilisierung der internationalen Lage. Bei aller kritischen Betrachtungsweise der verkommenden Moral, ist und bleibt die Frage nach Krieg und Frieden die entscheidende. Es ist die Klassenfrage, die gelöst werden muss, erst dann kann man die Moral wieder näher unter die Lupe nehmen. Nochmals ganz herzlichen Dank, mögen die Bundesbürger diesen Artikel in den richtigen Hals bekommen... Herzlichst, Harry Popow

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